Die Frage der Parusie gehört zu den spannendsten, die sich im Zusammenhang mit dem Christentum stellen: In den Schriften des Neuen Testaments, so die gängige Lesart, ist eine baldige Wiederkunft von Jesus Christus und mit ihr das Weltgericht und Weltende angekündigt; diese Endzeitereignisse blieben aber aus. Entsprechend groß ist der Bedarf nach einer Erklärung für diese nun zweitausend Jahre währende „Parusie-Verzögerung“.
In jüngerer Zeit hat der schottische Theologe Nicholas Thomas Wright das Thema erneut aufgegriffen. Seine Sicht hat er im Grundsatz bereits Mitte der 1990er Jahre in dem Buch „Jesus and the Victory of God“ niedergeschrieben. In einem Beitrag aus dem Jahr 2018 („Hope Deferred? Against the Dogma of Delay“, in: Early Christianity 9, 37-82, im Folgenden HD) behandelt er das Thema nochmals in Form einer Auseinandersetzung mit einigen Theologen des späten 19. und des 20. Jahrhunderts, vor allem mit Johannes Weiß (1863–1914), Albert Schweitzer (1875–1965) und Rudolf Bultmann (1884–1976).
In dem Aufsatz plädiert Wright dafür, die Auffassung einer Parusie-Verzögerung oder, wie er es nennt, eines „Verzögerungsdogmas“ „rundweg abzulehnen“ (HD 81). Wright gehört zu der Gruppe der „Teil-Präteristen“, die die Meinung vertreten, dass die im Neuen Testament (NT) angekündigten Ereignisse zum Teil bereits eingetreten und damit aus heutiger Sicht „vorbei“ (lateinisch „praeter“) sind.
Zu den aus Sicht der „Teil-Präteristen“ bereits eingetretenen Ankündigungen gehören alle, die mit einer Zeitbegrenzung versehen sind. Also zum Beispiel Markus 9,1, wo Jesus sagt: „Wahrlich, ich sage euch: Es stehen einige hier, die werden den Tod nicht schmecken, bis sie sehen das Reich Gottes kommen mit Kraft.“ Ein weiterer Vers mit Zeitbegrenzung findet sich ebenfalls bei Markus (13,30): „Dieses Geschlecht wird nicht vergehen, bis dies alles geschieht.“ Mit „dies alles“ ist etwa das „Kommen des Menschensohnes“ (vgl. Mk 13,26) und das „Weltende“ (vgl. Mk 13,31) gemeint.
Viele Christen finden diese Passagen irritierend: Beide Ankündigungen hätten zu Lebzeiten von Jesu Zeitgenossen eintreten sollen, dies ist aber augenscheinlich nicht geschehen. Wright versucht zu zeigen, dass die Irritation unbegründet ist. Denn schon aus Sicht der ersten Christen wie Paulus sei das Reich Gottes „mit Kraft“ gekommen. Und mit der gesamten Passage von Markus 13 beschreibe Jesus einzig und allein die Zerstörung des Jerusalemer Tempels im Jahr 70 – und nicht auch noch das „Weltende“.
Als Beleg für das angeblich bereits bestehende „Reich Gottes in Kraft“ zieht Wright drei Abschnitte aus den Briefen des Paulus heran: Römer 1,3-5, 1. Korinther 15,20-28 und Philipper 2,6-11. Das Problem ist, dass keine dieser Passagen einen entsprechenden Beleg liefern. Sie halten lediglich fest, dass Jesus bereits als Regent „in Kraft“ eingesetzt oder durch Gott erhöht ist. Daraus leitet Wright dann ab, dass damit auch das Reich Gottes „mit Kraft“ gekommen und machtvoll da sei (vgl. HD 58-60; 62 f.).
Wright verfährt hier sogar widersprüchlich: Einerseits betont er, dass in allen genannten Passagen Dinge genannt werden, die noch ausstehen, um das Reich Gottes machtvoll durchzusetzen. Andererseits behauptet er, das Reich Gottes sei aus Sicht der ersten Christen bereits vollmächtig da.
Die Widersprüche zeigen sich etwa bei den Erläuterungen zur Passage aus 1. Korinther 15. Paulus betone hier, dass die Herrschaft des Messias andauere, bis alle anderen Gewalten entmachtet seien (vgl. HD 62). Das Reich Gottes muss sich also erst noch gegen diese Mächte durchsetzen, auch wenn sie durch das Kreuzesgeschehen prinzipiell als überwunden gelten. Trotz dieses Befundes hält Wright fest: „Wenn wir den Autor von 1. Korinther fragen, ob das biblisch versprochene Königreich mit Macht gekommen ist, und wenn wir ihn fragen, ob der „Menschensohn“ zu weltweiter Autorität erhöht worden ist, wäre die Antwort Ja“ (HD 62).
Die Antwort auf beide Fragen müsste aber differenzierter ausfallen: Ja, der „Menschensohn“ ist aus Sicht des Paulus erhöht, seine Herrschaft hat begonnen, doch weltweite Autorität hat er noch nicht erlangt. Analog dazu gilt: Das Reich Gottes hat seinen Anfang genommen, doch es ist noch nicht mit Macht gekommen. Noch treiben andere Gewalten, nicht zuletzt der Tod selbst, ihr Unwesen. Wer dies berücksichtigt, kann nicht zu der Annahme kommen, dass sich Markus 9,1 auch aus Sicht der ersten Christen bereits erfüllt hat.
In einem weiteren Abschnitt seines Artikels versucht Wright zu zeigen, dass auch die Texte, in denen von einem baldigen „Kommen des Menschensohnes“ die Rede ist, bereits erfüllt sind. Zur Erläuterung zieht Wright Jesu Aussage bei dem Prozess vor dem Hohen Rat heran. Laut Matthäus-Evangelium sagt er dort: „Von nun an werdet ihr sehen den Menschensohn sitzen zur Rechten der Kraft und kommen auf den Wolken des Himmels“ (Mt 26,64).
Wie Wright richtig betont, enthält auch dieser Vers eine Zeitbegrenzung: Die Mitglieder des Hohen Rates werden noch zu sehen bekommen, was Jesus hier beschreibt (vgl. HD 74). Ebenfalls von Bedeutung ist sein Hinweis, dass Jesus hier Motive aus der jüdischen Bibel aufgreift: Aus der Vision von Daniel 7 (das Menschensohn- und Wolkenmotiv) und aus Psalm 110 (das Motiv des Sitzens zur Rechten).
So weit, so stimmig. Nun liest Wright die Passage aber anders als üblich: Für ihn ist dieses Kommen zu unterscheiden von der Parusie, wie sie Paulus etwa laut 1. Thessalonicher 4 erwartet. Er meint, dass Jesus hier nicht sein Kommen vom himmlischen Thron Gottes auf die Erde meine, sondern sein Kommen zum Thron Gottes – so, wie es in Daniel 7 beschrieben sei. Jesus spreche hier von seiner Inthronisation, die bereits mit Kreuzigung und Auferstehung ihren Anfang genommen habe. Vollständig sei sie aber erst durch das Kommen zum Thron, dessen irdisches Gegenstück die Zerstörung des Tempels im Jahr 70 sei.
Um seine These zu untermauern, führt Wright zwei Punkte an: Zum einen stellten die Evangelien Jesus als Ersatz für den Tempel dar. Jesus selbst habe betont, dass der Tempel unter dem Gericht Gottes stehe. „Da Jesus die Zerstörung des Tempels voraussagte, und da er selbst in gewisser Weise von den Evangelisten als wahrer Tempel gesehen wird, bedeutet dessen Zerstörung seine Bestätigung“ (HD 78).
Außerdem spreche Jesus in der Ölberg-Rede zwar davon, dass es eine kosmische Katastrophe geben werde („… die Sterne werden vom Himmel fallen und die Kräfte der Himmel werden ins Wanken kommen“, Mt 24,29). Das sei aber nicht wörtlich zu verstehen. Vielmehr sei dies ein Ausdruck dafür, was die Zerstörung des Tempels bedeute: Das Gotteshaus habe so eine zentrale Rolle für die Juden gespielt, dass dessen Zerstörung für sie einer kosmischen Katastrophe, einem „Weltende“ gleichkomme. Jesus bediene sich der Bildsprache von Jesaja 13, wo vom Fall Babylons die Rede ist, um das Ausmaß dieses Einschnittes sprachlich zu fassen.
Auch hier lassen sich Einwände anbringen. Zum einen stimmt die Reihenfolge in Jesu Ankündigung vor dem Hohen Rat nicht zu dem, was Wright herausliest: Jesus spricht erst von einem „Sitzen“, dann von einem „Kommen“ – nicht umgekehrt. Wenn Jesus ein Kommen zum Thron gemeint hätte, würde er erst das Kommen, dann das Sitzen nennen. Das umso mehr, als die beiden Motive aus unterschiedlichen Stellen der jüdischen Bibel zusammengefügt sind und entsprechend frei kombiniert werden konnten.
Außerdem finden sich in der Ölberg-Rede Hinweise, dass Jesus ein Geschehen von weltweitem Belang anspricht und nicht nur den Tempel in den Blick nimmt: Das Evangelium vom Reich Gottes wird „in der ganzen Welt“ gepredigt werden, „und dann wird das Ende kommen“, heißt es in Mt 24,14. Weiter werden „alle Stämme der Erde“ den Menschensohn kommen sehen, und zwar „mit großer Kraft und Herrlichkeit“ (V.30). Am Ende wird Jesus seine Auserwählten auf der gesamten Welt sammeln (vgl. V.31).
Diese „globale“ Perspektive findet sich auch wenige Abschnitte später in Mt 25,31-46, wenn Jesus nach seinem Kommen „alle Völker“ (V. 32) richten wird. In anderen Texten begegnet dieser Gedanke ebenfalls: Für Paulus stehen alle Menschen, egal ob Juden oder Heiden, unter dem Gericht Gottes: „Denn Gottes Zorn wird vom Himmel her offenbart über alles gottlose Leben und alle Ungerechtigkeit der Menschen“ (Römer 1,18). Von einem gesonderten, zeitlich getrennten Gericht für den Tempel ist nirgendwo die Rede.
Wrights Fixierung auf den Tempel wirft ein Schlaglicht auf die grundsätzliche Problematik des Artikels. Wie eingangs erwähnt, behandelt er das Thema in Form einer Auseinandersetzung mit Theologen wie Weiß oder Schweitzer. Ihnen wirft er unter anderem vor, in die neutestamentlichen Verheißungen die Ankündigung eines „rein spirituellen“ Reiches hineingelesen zu haben. Da dies offenkundig so nicht eingetreten ist, hätten sie das „Dogma der Verzögerung“ in die westliche Theologie eingeführt (vgl. HD 37-39; 48 f.).
Mit seiner Stoßrichtung fällt Wright allerdings auf der anderen Seite des Pferdes herunter: Er reduziert die zeitbegrenzten Erwartungen auf eine „Veränderung der tatsächlichen sozialen und politischen Gegebenheiten“ (HD 50 f.). Aus seiner Sicht sind die apokalyptischen Hoffnungen nichts anderes als politische Hoffnungen (vgl. HD 71), und zwar, „dass dem Recht Genüge getan, das Böse ausgerottet und Israel frei in seinem Land sein wird“ (HD 50 f).
Das Neue Testament, so Wright, enthalte zwar die Hoffnung auf eine Transformation der Welt, die auch eine Erneuerung der Natur umfasse. Dazu gehöre die allgemeine Totenauferstehung, die Verwandlung der noch Lebenden und insgesamt eine Neuschöpfung. Doch diese Aussichten hätten keinen Zeitrahmen, daher sei es kein Problem, dass diese bislang ausgeblieben seien.
Der neutestamentliche Befund legt eine andere Sicht nahe. Paulus erwartet in 1. Thessalonicher (4,15.17) und 1. Korinther (15,51), dass er beim Weltende noch lebt und verwandelt wird. Später mag er mit seinem Tod vor dem Weltende gerechnet haben. Aber noch im Römerbrief legt er in Kapital 8 dar, dass die gesamte Natur „in Wehen“ (V. 22) liegt. Paulus geht also von einer baldigen „Geburt“ der Natur, einer Neuschöpfung aus: „… auch die Schöpfung wird frei werden von der Knechtschaft der Vergänglichkeit …“ (V. 21)
Wright nimmt Römer 8 hingegen als Beleg dafür, dass Paulus für eine naturhafte Transformation keinen Zeitrahmen nennt. Diese Transformation könne vielmehr „jederzeit“ (HD 56) stattfinden. Nun hat Paulus zwar keinen Zeitrahmen genannt, aber der Begriff „Wehen“ kann nichts anderes meinen als „in der absehbaren Zeit“; damit ist das „Jederzeit“ aus heutiger Sicht ist längst vorbei.
Mit anderen Worten: Es lässt sich nicht leugnen, dass die Jesus-Nachfolger der ersten Generation ein „Weltende“ im Sinne einer fundamentalen Veränderung der Welt, nicht nur der politisch-sozialen Gegebenheiten, erwartet haben. Die Theologen, die Wright kritisiert, lagen mit ihrer Auffassung von einem rein „spirituellen“ Reich Gottes falsch, damit hat Wright recht. Doch mit ihrer Auffassung, dass die ersten Christen eine völlig neue Welt erwartet haben, lagen sie deren Denkweise näher als Wright.
Abgesehen davon haben sich die politisch-sozialen Hoffnungen gar nicht erfüllt, im Gegenteil: Mit dem Jahr 70 lebte Israel nicht wieder „frei in seinem Land“, vielmehr waren Jerusalem und sein Tempel zerstört, für die Juden begann die Diaspora.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich Wright zweier Kniffe bedient, um seine Sicht zu begründen: Einmal nimmt er künstliche Unterscheidungen vor, die nicht geboten sind. Er unterscheidet zwischen dem Kommen Jesu (zum Thron) und seiner Rückkehr (zur Erde). Das Neue Testament kennt aber nur ein Kommen Jesu, nämlich seine Rückkehr.
Die zweite künstliche Unterscheidung hängt damit zusammen und betrifft das Gericht: Wright behauptet ein Sondergericht für den Tempel und ein universales für die Menschheit; auch hierfür gibt es keinen biblischen Halt.
Der zweite Kniff besteht in einer künstlichen Zusammenfügung: Wright begreift die Erhöhung Jesu zum Herrscher einerseits und das Bestehen des Reiches Gottes in Macht andererseits als ein einziges Geschehen. Die einschlägigen Passagen betonen aber, dass mit der Inthronisation Jesu die Durchsetzung des Reiches Gottes zwar begonnen hat, aber erst am Anfang steht.
Aufgrund der genannten Schwächen ist Wrights Aufsatz kein tragfähiger Beitrag, um die Abschaffung des „Verzögerungsdogmas“ in die Wege zu leiten. Im Gegenteil: Entgegen seiner Intention bestätigt Wright, dass die Auffassung einer „Parusie-Verzögerung“ keine Chimäre ist. Der neutestamentliche Befund erweist sich vielmehr als eines der herausforderndsten, aber auch spannendsten Probleme gegenwärtiger Theologie.