Wer die Hoffnung hatte, dass Israel nach den Wahlen im November in politisch ruhigere Fahrwasser kommt, wird weiter auf die Zukunft setzen müssen. In den ersten Wochen der am 29. Dezember vereidigten Regierung von Wahlsieger Benjamin Netanjahu geriet das Land in einen Streit, bei dem es nicht nur um das eine oder andere Gesetz vom Schlage einer Bildungs- oder Gesundheitsreform geht: Nun will die Regierung den politischen Betrieb selbst reformieren. Angesichts dieser Pläne und des massiven Widerstands dagegen geisterte zurecht der Begriff „Verfassungskrise“ durch die Medien. Und auch wenn es noch nicht so weit ist und vielleicht auch nicht dazu kommt, sehen Beobachter doch die Zutaten für einen Verfassungskonflikt gegeben, also eine direkte Konfrontation der Staatsgewalten.
Gleich in der ersten Woche der Regierung stellte der neue Justizminister Jariv Levin von Netanjahus Likud-Partei sein Programm zu einer Reform vor, mit der er die Gewaltenteilung nachjustieren will. Ein wichtiger Punkt dabei: Den Richtern des Obersten Gerichtshofes soll es erschwert werden, Gesetze oder Regierungsentscheidungen zu kassieren, falls diese nach deren Auffassung gegen die Rechtslage verstoßen. Hinter dem Anliegen steckt die Kritik, dass das Gericht in der Vergangenheit allzu häufig in den politischen Prozess eingegriffen habe; daher müssten Parlament und Regierung gestärkt werden. In einem weiteren Punkt will Levin der Regierung mehr Mitsprache bei der Ernennung der Richter geben.
Gegner der Reform befürchten das Ende des Rechtsstaates, der in der Moderne unter anderem auf dem Prinzip der Gewaltenteilung beruht. Genährt wird der Unmut durch den Ausblick auf weitere, bislang aber nur angedeutete Reformpakete. Diese sollen auch die Rolle des Generalstaatsanwaltes berühren; Kritiker sehen hier den Versuch Netanjahus, sich im gegen ihn laufenden Korruptionsprozess einen Vorteil zu verschaffen.
Doch schon mit Blick auf das nun vorgestellte Paket sprach Oppositionsführer Jair Lapid (Jesch Atid) von der „Zerstörung der Demokratie“. Nachdem Levin seine Reform vorgestellt hatte, kam es schnell zu Massenprotesten. In Tel Aviv gingen an mehreren Samstagen in Folge Zehntausende Menschen nach Ende des Schabbats auf die Straßen. Am 21. Januar waren es laut Polizeiangaben gar 110.000. Auch in anderen Städten demonstrierten Israelis, etwa in Jerusalem, Be’er Scheva oder Haifa. Zudem sprachen sich mehrere Vertreter aus der Wirtschaft und dem Finanzwesen gegen die Reform aus.
Das Land scheint derart in Aufruhr, dass sich Staatspräsident Jitzchak Herzog dazu veranlasst sah, mit Blick auf das anstehende 75. Staatsjubiläum an die Geschichte Israels zu erinnern: Zweimal, unter König David und unter den Hasmonäern, entstand ein Staat im Land Israel. Und zweimal brach er wegen Streitigkeiten zusammen, bevor er sein 80. Jahr erreichte. Herzog mahnte, die angestrebte Reform nicht ohne gründliche Diskussionen anzugehen: „Der Mangel an Dialog zerreißt uns von innen und ich sage es deutlich: Dieser Sprengsatz ist drauf und dran zu explodieren.“
Der Aufruhr mag wie ein neues Gewitter wirken, hat aber eine lange Vorgeschichte. Im Kern geht es nicht nur um die Frage einer Balance zwischen den Staatsgewalten Regierung, Parlament und Gerichtsbarkeit: Hinzu kommt die Frage nach dem Ausgleich zwischen dem jüdischen und dem demokratischen Charakter Israels. Befürworter der Reform halten dem Gerichtshof nicht nur vor, sich zu stark in den politischen Prozess einzumischen; sie sehen auch eine Überbetonung des „demokratischen“ Aspekts (der Rechte eines jeden einzelnen Menschen) zuungunsten des „jüdischen“ (der Kollektivrechte des jüdischen Volks). Damit einher geht aus deren Sicht eine Entfremdung zwischen den Richtern und der breiten Bevölkerung.
Die „demokratischen“ Individualwerte hatten 1992 eine besondere Stunde, als die Knesset die ersten Grundgesetze zum Thema Menschenrechte verabschiedete. Erstmals wurden Rechtsgüter wie Würde, Freiheit, Eigentum oder Privatsphäre festgeschrieben. 1995 entschied der Oberste Gerichtshof unter Präsident Aharon Barak, dass diese Rechte „vorrangigen Verfassungsstatus“ haben, und dass es dem Obersten Gerichtshof zusteht, die Gesetze, auch die Grundgesetze, anhand dieser beiden Grundrechte zu überprüfen. Barak nannte deren Verabschiedung eine „Verfassungsrevolution“, da nun auch die Knesset an deren Inhalt gebunden sei. Kritiker wenden ein, mit seiner nachfolgenden Deutung und Einstufung habe Barak eine eigentlich nicht vorhandene Verfassung erfunden. Das Grundgesetz zur Menschenwürde kam mit einer Mehrheit von 32 zu 21 Stimmen zustande, nicht einmal die Hälfte der Knesset-Abgeordneten gab überhaupt die Stimme ab.
Israel hat keine formelle Verfassung. In der Zeit der Staatsgründung sollte sie eigentlich durch eine 1949 gewählte verfassungsgebende Versammlung – aus ihr wurde dann die erste Knesset – verabschiedet werden. Wegen politischen Streits gelang dies nicht. Seither hat die Knesset nach und nach „Grundgesetze“ verabschiedet, die gemeinhin als Quasi-Verfassung gelten. Sie regeln die Rolle staatlicher Institutionen wie Regierung oder Staatspräsident, oder enthalten andere Bestimmungen, etwa zu Jerusalem als Hauptstadt. Bislang existieren 13 dieser Grundgesetze. 1992 kamen erstmals welche zum Thema Menschenrechte hinzu. Das jüngste Grundgesetz aus dem Jahr 2018 schreibt Israel als Nationalstaat des jüdischen Volkes fest. Weitere Grundgesetze sind angedacht. Trotz ihrer Bedeutung werden Grundgesetze wie normale Gesetze mit einfacher Mehrheit verabschiedet. Das gilt auch für Änderungen an bestehenden Grundgesetzen, sofern dies im Gesetz selbst nicht anders bestimmt ist.
Wie die „jüdischen“ und die „demokratischen“ Aspekte in Konflikt geraten können, zeigt ein Gerichtsurteil aus dem Jahr 2000: Das Oberste Gericht bestätigte einer arabischen Familie das Recht, Land in der jüdisch geprägten Ortschaft Katzir zu erwerben. Die Anwälte der Familie hatten damals gegen die Landbehörde ins Feld geführt, dass die „Siedlungsphase“ des Zionismus vorbei sei und es nun auf Individualrechte ankomme. Dieser Weg weise in die Zukunft. Kritiker warfen den Richtern vor, die konkreten Umstände des Falles nicht berücksichtigt zu haben: Dass in der Umgebung der Ortschaft Araber ohnehin in einer großen Mehrheit lebten und für Juden dort kein freier Wohnungsmarkt bestehe, weil Araber mit einem Verkauf an Juden ihr Leben gefährdeten. Zudem sei die Ortschaft seit ihrer Gründung als jüdische Gemeinschaft gedacht gewesen.
Das Urteil bejubelten Unterstützer von Gleichheitsrechten, Kritiker nannten es aber den „letzten Sargnagel“ für den Zionismus. In einem Kommentar in der Zeitung „Ha’aretz“ hieß es, der Richterspruch unterwandere einen zentralen Wert des Zionismus, nämlich die Förderung jüdischer Ortschaften. Derartige Entscheidungen, die den Fokus auf die Individualrechte legten, galten bald als „richterlicher Aktivismus“, der besonders unter Gerichtspräsident Barak um sich gegriffen habe.
Eine Antwort darauf bot die Knesset im Juli 2018 mit dem „Nationalstaatsgesetz“, einem weiteren Grundgesetz, das den jüdischen Charakter Israels betont. Ein Abschnitt spricht allein dem jüdischen Volk Nationalrechte im Land Israel zu, ein weiterer hält fest, dass die Förderung jüdischer Ortschaften zu den zentralen Werten Israels gehört. Das Hebräische gilt als einzige Amtssprache, während dem Arabischen ein „Sonderstatus“ zukommt. Kritiker monierten, dass dieses Grundgesetz die Rechte von Minderheiten unterbelichte, während die jüdische Dimension überbetont sei.
Levins Vorschlag ist vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen zu verstehen. Die Absicht, der Regierung stärkere Kontrolle über die Richterernennung zu geben, ist dem beschriebenen Gefühl der Entfremdung zwischen Richter und Volk geschuldet; de facto hatten die drei Richter im Ernennungsgremium bislang ein Vetorecht für die Posten des Obersten Gerichts, weil ohne deren Stimmen keine erforderliche Mehrheit zustande kommen konnte.
Die Befürworter der Reform sahen sich indes durch ein neues Urteil des Obersten Gerichtshofes bestätigt: Am 18. Januar entschied dieser, dass der Schass-Vorsitzende Arje Deri wegen krimineller Vergehen kein Ministeramt bekleiden darf. Er müsse daher seinen Posten als Gesundheits- und Innenminister abgeben; seine Ernennung sei „extrem unangemessen“ gewesen.
Deri hatte nach einem Schuldbekenntnis bei einem Steuerprozess im Januar 2022 im Rahmen eines Gerichtsdeals zugesagt, sich aus dem politischen Leben zurückzuziehen; so verstanden es jedenfalls die Richter damals. Damit wollte der 64-Jährige eine offizielle Politiksperre von sieben Jahren umgehen, wie sie schon einmal in den 2000er Jahren auf ihm lag. Zunächst gab er seinen Knessetsitz auch ab, kandidierte gegen Ende des Jahres aber wieder für die aktuelle Knesset.
Die Befürworter der Reform sehen in Urteilen wie nun zu Deri Willkür am Werk. Sie wollen den Richtern die Möglichkeit nehmen, die „Angemessenheit“ politischer Entscheidungen zu beurteilen. Premier Netanjahu gehorchte zwar dem Richterspruch und entließ Deri aus seinen Ministerämtern. Doch am 31. Januar brachte die Koalition einen Ergänzungsvorschlag für das Grundgesetz zur Regierung auf den Weg, der es Gerichten untersagt, Ernennungen des Regierungschefs rückgängig zu machen, es sei denn, sie verstoßen gegen die im Gesetz genannten Kriterien: Der Kandidat muss ein Staatsbürger Israels sein und darf keine Politiksperre aufgrund krimineller Vergehen erhalten haben.
Das Reformpaket soll bis Ende März durch die Knesset. Darin ist auch eine Änderung des Grundgesetzes zur Justiz vorgesehen, die dem Obersten Gerichtshof Urteile über Grundgesetze verbietet. Hier könnte die Verfassungskrise zu einem Konflikt werden, nämlich dann, wenn die Richter diejenige Gesetzesänderung beanstanden, die ihnen verbietet, genau dies zu tun.
In der Frage, wie das Mächteverhältnis angemessen austariert wird, gibt es keine objektiv richtige Antwort. Im Jahr 2017 hatte der damalige Bildungsminister Naftali Bennett (damals noch in der Partei Jüdisches Haus) eine ähnliche Reform vorgeschlagen. Zur Begründung sagte er: „Der Hohe Gerichtshof hat die Knesset zu einem nutzlosen Gefäß gemacht.“ Als Beispiel nannte er ein Gesetz zur höheren Besteuerung von Zweit- und Drittwohnungen, das die Richter kassierten. Die damals angedachten Hürden für eine Gesetzesüberprüfung lagen etwas tiefer als im aktuellen Vorschlag: Ein Gremium von neun Richtern und eine Zweidrittel-Mehrheit sollte genügen.
Bei dem Thema ist auch zu bedenken, dass in Israel die Gesetze in nur einer Kammer verabschiedet werden; in Deutschland müssen etliche noch durch den Bundesrat und in den USA durch den Senat. Über diese Dinge müsste nun eigentlich eine Debatte laufen – über Zahlenverhältnisse und über die Frage, ob es gleich all dieser Vorschläge auf einmal bedarf. Levin hat in einer Äußerung jedoch angedeutet, dass er nicht vorhat, Kompromisse einzugehen.
Letztlich zeigt der aktuelle Streit, dass Israel auch mit seinen nun bald 75 Jahren in mancher Hinsicht noch ein unfertiger Staat ist, sogar mit Blick auf den politischen Betrieb. Die über Jahrzehnte hinweg verabschiedeten Grundgesetze als vorläufiger Verfassungsersatz sind dafür ein Beispiel. Etwas verbrämt ließe sich sagen, dass das Land der Start-ups selbst immer noch ein Start-up ist. In mancher Hinsicht trifft das auch zu. Doch was sonst die vielen faszinierenden Eigenschaften dieses Staates und seiner Menschen beschreibt, wird aktuell zu einer politischen und gesellschaftlichen Herausforderung. Es scheint, dass die Weisheit aller politischen Akteure derzeit mehr gefragt ist als sonst.
Dieser Artikel ist zuerst bei Israelnetz erschienen.