Vor mehr als einem Jahr, am 31. März 2022, begann Israel mit der Anti-Terror-Kampagne „Wellenbrecher“. Anlass war eine Terrorwelle im Frühjahr. Eine Hochburg des Terrors ist Dschenin im nördlichen Westjordanland. Entsprechend kommt es dort immer wieder zu Razzien der Armee.
Die Dokumentation „Die Märtyrer-Kinder. Im Herzen des Nahost-Konflikts“ des WDR-Magazins „Monitor“ nimmt sich diese Entwicklung zum Anlass, um die Rolle der „Kinder“ in der Stadt zu beleuchten. Denn die Autoren Shafag Laghai und Lara Straatmann stellen fest: „Seit einem Jahr häufen sich die Razzien. Und immer wieder trifft es Kinder.“
Trotz des Fokus auf den Ort Dschenin gehen die tödlichen Terroranschläge gegen Israelis in den vergangenen Wochen nicht unter. Zu sehen ist dabei auch die unverhohlene Freude der Palästinenser in Dschenin über jüdische Todesopfer. „Monitor“ dokumentiert die mangelnde Präsenz offizieller palästinensischer Sicherheitskräfte in der Autonomiestadt.
Der Film zeigt außerdem, wie verbreitet der Wunsch unter jungen Palästinensern ist, Israelis zu töten und „Märtyrer“ zu werden. Einer von ihnen fasst seine Sicht auf diesen Todeskult so zusammen: „Wir kommen ins Paradies, sie in die Hölle.“
Der Zuschauer wird an dieser Stelle zum Schluss kommen, dass die Gewaltverherrlichung ein Grund für den Hang zu Terror sein könnte. Der Film schafft es aber dennoch, irgendwie auch Israel die Schuld an der Misere zu geben. In einem Interview konfrontiert Shafag Laghai einen Armeesprecher mit dem Vorwurf, bei Razzien gegen Terroristen gebe es ja auch zivile Opfer; dies wiederum führe zu mehr Gewalt. Der Armeesprecher fragt zurück, ob die Israelis denn mit der Terrorbekämpfung aufhören sollen. Und er merkt an, Palästinenser hätten die Wahl: Wer während einer Razzia im Haus bleibe, komme nicht zu Schaden.
Für viele ist bei solchen Denkansätzen eine Grenze überschritten: Palästinensern Eigenverantwortung zukommen zu lassen, ist zu viel des Guten. Die Autoren des Films gehören dazu. Sie stellen den Satz der Wahlfreiheit für „Kinder“ mit Verweis auf die allgemeine Gewaltsituation infrage: „Haben sie eine Wahl, der Gewalt zu entkommen?“ Bei diesem Satz blenden sie ein kleines Mädchen ein, mit einem Plüschtier in der Hand.
Aber mit dieser Szene offenbart sich eine Problematik, die den Film beherrscht und die Diskussion um die Wahlfreiheit verzerrt: Der Begriff „Kinder“ ist zu breit angesetzt. Am Schluss ist eine Statistik der Vereinten Nationen eingeblendet, der zufolge seit Jahresanfang 18 „Kinder“ auf palästinensischer Seite getötet wurden. Die Autoren folgen damit der Definition der UN: Alle Personen jünger als 18 Jahre.
Aber diese „Kinder“ sind eben keine kleinen Mädchen mit Plüschtieren. Es handelt sich um Jugendliche, denen mit einem Durchschnittsalter von fast 16 Jahren bereits eine gewisse Eigenverantwortung für ihr Leben zukommt. Und die, wie eingangs gesehen, allzu gerne Waffen tragen, gegen Israel kämpfen und „Märtyrer“ sein wollen.
Es ist bedauerlich, dass das „Monitor“-Team den Begriff unkritisch übernommen hat, zumal er auch im Titel vorkommt. Im allgemeinen Sprachgebrauch ist mit „Kindern“ eher ein Alter von unter zwölf Jahren gemeint. Vor dem Hintergrund des klassischen Vorwurfs gegen Juden, „Kindermörder“ zu sein, wäre es mehr als angebracht gewesen, den Begriff zu hinterfragen und auf genauere Formulierungen zu achten. „Jugendliche“ oder „Minderjährige“ bieten sich als Alternativen an.
Auf diese Weise wird aber die angeblich nicht vorhandene Wahlfreiheit zum Narrativ des Films. Als Beispiel für den geradezu schicksalhaft wirkenden Eingangssatz „und immer wieder trifft es Kinder“ dient dem Film ein 14-Jähriger, der bei einer Razzia tödlich von einer Kugel getroffen wurde. Er stand, sofern im Film ersichtlich, zwischen Soldaten und Terroristen.
Er habe „bloß gucken“ wollen, schildert sein Freund, so als ob es sich bei den Razzien um Paintball-Duelle handelt. Ist es undenkbar, dass man einem 14-Jährigen die Wahl zumutet, sich in Sicherheit zu bringen, anstatt „bloß zu gucken“?
Vermeintlich bestätigt wird das Narrativ durch Kinder im Flüchtlingslager Dschenin, die beim dortigen „Freedom Theatre“ mitmachen. Es handelt sich dem Anschein nach tatsächlich um Kinder, das genaue Alter wird aber nicht genannt. Sie erzählen von ihren zerstobenen Berufsträumen, sei es Archäologin oder Chirurg. Was genau sie vom Lernen in der Schule abhält, bleibt unklar. Eine kritische Rückfrage oder eine Nachfrage bei einer Schule des UN-Hilfswerks für Palästina-Flüchtlinge (UNRWA) wäre hier wünschenswert gewesen.
Die Dokumentation bietet gerade zu Beginn interessante weil seltene Einsichten in die gewaltbereite Atmosphäre unter den Palästinensern in Dschenin. Im Verlauf des Films bleiben die Autoren aber zu unkritisch und folgen einem fragwürdigen Narrativ. Die Rolle der Eltern bei der Erziehung bleibt gänzlich unbeleuchtet. Aber danach zu fragen bedeutete auch, Palästinensern Eigenverantwortung überhaupt erst zuzusprechen.
Dieser Artikel ist zuerst bei Israelnetz erschienen.