Bei all den etablierten Terrorgruppen in und um Israel mag es kaum denkbar sein, dass „Bedarf“ an einer neuen besteht. Seit einigen Monaten lenkt aber mit der „Löwenhöhle“ eine neue Gruppe die Aufmerksamkeit der israelischen Sicherheitskräfte durch zahlreiche Angriffe in der Gegend um Nablus auf sich. Mitte Oktober tötete sie bei einem dieser Angriffe einen israelischen Soldaten. Wie ernst Israel die Gefahr nimmt, zeigen die Militäraktionen der vergangenen Tage.
Die Bezeichnung „Löwenhöhle“ rührt her von Ibrahim al-Nabulsi: Der Kommandeur der Al-Aqsa-Märtyrer-Brigaden, des bewaffneten Arms der Fatah-Partei von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas, war als „Löwe von Nablus“ bekannt. Auf der Kurzvideo-Plattform TikTok hatte er eine große Gefolgschaft. Anfang August wurde er bei einer Razzia der Armee nach einjähriger Suche getötet. Er soll viele Terrorangriffe auf Israelis organisiert haben. Besonders seit der Terrorwelle im Frühjahr hatte Israel den Anti-Terror-Einsatz im Westjordanland verschärft.
Die „Löwenhöhle“ ist eine Antwort auf diese Entwicklungen. Ein Antrieb ist aber auch die Gegnerschaft zur Palästinensischen Autonomiebehörde (PA), der sie Korruption vorwirft; als Gräuel gilt auch die Sicherheitszusammenarbeit mit Israel. Die Gruppe kommt indes nicht aus dem Nichts: Als Vorläufer gilt das am 25. Mai eingerichtete „Nablus-Bataillon“, eine Art lokale Dachorganisation verschiedener Terrorgruppen. Das „Bataillon“ ist seinerseits ein Nachahmer des vom Islamischen Dschihad initiierten „Dschenin-Bataillons“, das seit September 2021 in Erscheinung tritt.
Die Mitglieder sind junge Palästinenser, die sich in einer losen Hierarchie zusammengefunden haben. Für sie haben die traditionellen Unterschiede zwischen den Terrorgruppen weniger Bedeutung als sonst üblich. Die Jerusalem-Brigaden des Islamischen Dschihad, die Issadin al-Kassam-Brigaden der Hamas, die Märtyrer-Brigaden der Fatah und andere koordinieren sich. Dieses verbindende Denken und Handeln ist ein neues Phänomen.
Die „Löwenhöhle“ unterscheidet sich in einem weiteren Punkt von sonstigen lose organisierten „Widerstandsgruppen“: Sie wird nicht erst aktiv, wenn israelische Sicherheitskräfte zu Razzien in die palästinensischen Städte kommen, sondern sucht sich Ziele im Umland, darunter Armeestellungen, fahrende Autos und Siedlungen. Nach ihren Angriffen fliehen sie dann wieder in ihre „Höhle“, das heißt in die Altstadt von Nablus. Allein im September zählte die Armee 34 Angriffe im Westjordanland, die höchste Zahl seit zehn Jahren. Hinzu kommen vereitelte Terrorangriffe, darunter ein „groß angelegter“ in Tel Aviv.
Der Kern der Gruppe ist offenbar nicht besonders groß, er besteht aus 20 bis 30 Personen. Die Armee befürchtet aber, dass die Gruppe jugendliche Palästinenser zu Terroraktionen animiert, die sie zwar auf eigene Faust, aber in deren Namen verüben. Die „Löwenhöhle“ hat so gesehen mehr den Charakter einer Bewegung oder einer Idee als einer organisierten Gruppe, meinen Beobachter. Das macht es aber auch schwierig, gegen sie vorzugehen. Sie ist in den Sozialen Medien sehr aktiv. Mitte Oktober hat TikTok ihren Account zwar gesperrt, aber auf Telegram bleiben die Möglichkeiten des Austausches erhalten. Ein Ziel ist ein Massenaufstand, ähnlich einer „Intifada“.
Mit den Razzien der vergangenen Tage hat Israel begonnen, verstärkt gegen die Gruppe vorzugehen. In der Nacht zum Sonntag wurde ein Kernmitglied, Tamer al-Kilani, mitten in Nablus durch einen Sprengsatz getötet. Dass Israel dahinter steckt, ist zwar nicht bestätigt, aber naheliegend. Die Botschaft wäre dann: Ihr könnt euch auch in eurer „Höhle“ nicht sicher fühlen. In der Nacht zum Dienstag folgte eine Militäraktion in der Autonomiestadt, bei der ein Gründungsmitglied getötet und eine Waffenwerkstatt zerstört wurde.
Diese Einsätze zeigen auch, wie schwach die Autonomiebehörde ist. Sie hat bereits in Dschenin die Kontrolle über terroristische Elemente weitgehend verloren. Die PA-Sicherheitskräfte haben zwar einige Anhänger der „Löwenhöhle“ verhaftet, aus Sicht der Israelis geht das aber nicht weit genug. Die PA treibt zudem ein doppeltes Spiel: Sie versucht, die Gefangenen wieder für sich zurückzugewinnen und in den Dienst der PA-Sicherheitskräfte zu stellen.
Für Israel ist das Vorgehen gegen die Gruppe ebenfalls ein Balanceakt. Es gilt einerseits, Grenzen aufzuzeigen und das Gefühl von Sicherheit für die Mitglieder und Anhänger gar nicht erst aufkommen zu lassen. Dies auch angesichts der Gefahr, dass sich das Vorbild des „Dschenin-Bataillons“, also das lokale „Zusammenspiel“ verschiedener Terror-Organisationen, auch in anderen Städten durchsetzt. In Tulkarm gibt es ebenfalls schon ein „Bataillon“.
Andererseits könnte ein noch härteres Vorgehen einem „Volksaufstand“ den Boden bereiten. Daher wird es die Armee vorerst wohl bei „Nadelstichen“, also gezielten Razzien, belassen. Das Interesse ist groß, das derzeitige Sicherheitsarrangement mit der PA beizubehalten. Bei allen Nachteilen und Schwächen ist dies für Israel derzeit noch die beste Option. Aus israelischer Sicht bleibt zu hoffen, dass dieser Ansatz genügt.
Dieser Artikel ist zuerst bei Israelnetz erschienen.