Als Israel am 7. Juni 1967 im Sechs-Tage-Krieg Ostjerusalem und damit auch den Tempelberg eroberte, war bei den Rabbinern des Landes guter Rat teuer. Wie sollten sie mit der neu gewonnenen Kontrolle über den heiligsten Ort für Juden verfahren? Bis 1967 hatte Jordanien den Israelis jeglichen Zugang zu Ostjerusalem verwehrt – entgegen der knapp 20 Jahre zuvor getroffenen Waffenstillstands-Vereinbarungen nach dem Unabhängigkeitskrieg.
Die Vorschläge erreichten eine gewisse Bandbreite: Vom Sprengen des Felsendoms, um anstelle dessen einen dritten Tempel zu errichten, bis hin zu einem Warnschild, das Juden den Zugang untersagt – immerhin musste nach biblischer Überlieferung mit dem Tod bestraft werden, wer unrein den Bereich der Gegenwart Gottes betritt. Niemand wusste, wo genau dieser Bereich, das Allerheiligste, einst war. Doch was die Rabbiner sehr wohl wussten: Längst nicht mehr allen Israelis war die Strenge des biblischen Zutrittsverbots geläufig.
Am 17. Juni einigte sich dann Verteidigungsminister Mosche Dajan mit Vertretern der jordanischen Waqf-Behörde auf den bis heute gültigen „Status quo“ für den Tempelberg. Bei einem Treffen auf dem Areal legten sie fest: Juden dürfen den Berg betreten, aber nicht dort beten – das dürfen nur Muslime. Für jüdisches Gebet ist weiter der Platz vor der Westmauer vorgesehen, der ein Teil der Umfassungsmauer des Tempelberg-Plateaus ist. Diese mündliche Vereinbarung ist nirgendwo schriftlich festgehalten, wird aber grundsätzlich eingehalten – nicht zuletzt, weil die israelische Regierung ein Interesse daran hat, Eskalationen zu vermeiden: Für Muslime ist die Al-Aqsa-Moschee nach üblicher Lesart der drittheiligste Ort, die palästinensischen Araber verbinden damit ihre nationalen Ambitionen.
Seit einigen Jahren scheint sich dieser Status quo aber zu verschieben. Juden beten auf dem Areal auf zurückhaltende Weise, und anders als früher verzichten die israelischen Sicherheitskräfte darauf, einzuschreiten. Die Entwicklung fand im Oktober einen vorläufigen Höhepunkt, als das Jerusalemer Magistratsgericht ein Urteil mit dem Umstand erklärte, dass jüdisches Gebet auf dem Tempelberg mittlerweile üblich ist.
Geklagt hatte Arje Lippo, den die Polizei des Areals verwiesen hatte – er betete wohl zu offensichtlich. Zusätzlich erhielt er ein 15-tägiges Zutrittsverbot. Die Magistratsrichterin Bilha Jahalom hob dieses jedoch auf. Anhand von Videoaufnahmen entschied sie, dass Lippos Gebet dezent genug gewesen sei – und im Übrigen nichts besonderes: Lippo „betet, wie viele andere, täglich auf dem Tempelberg“. Somit gebe es auch keinen Verstoß gegen polizeiliche Anordnungen.
Die Polizei legte dagegen jedoch Widerspruch ein: Lippo habe sich in der Öffentlichkeit „unangemessenen verhalten“. Das Urteil rief zudem Länder der Region auf den Plan: Ägypten, Jordanien, Saudi-Arabien und die Türkei empörten sich. Die jordanische Waqf-Behörde, die für die Verwaltung des Tempelbergs zuständig ist, sprach von einem „ungeheuerlichen Verstoß“ gegen die Heiligkeit des Areals und von einer „eindeutigen Provokation“ von Muslimen in aller Welt.
Von israelischer Seite meldete sich Sicherheitsminister Omar Bar-Lev zu Wort und unterstützte den Widerspruch der Polizei. Der Avoda-Politiker warnte vor „einseitigen Schritten“ und erklärte: „Eine Änderung des Status quo wird die öffentliche Sicherheit gefährden und ein Aufbrausen verursachen.“ Drei Tage nach dem Richterspruch, am 8. Oktober, hob das übergeordnete Jerusalemer Bezirksgericht das Urteil auf und kam damit dem Widerspruch der Polizei entgegen.
Damit scheint vorerst zwar wieder Ruhe in die Angelegenheit gekommen zu sein. Doch der Vorgang ist Beleg dafür, dass sich bezüglich der Tempelberg-Politik etwas ändert. Und diese Änderung vollzieht sich keineswegs unter der Hand: Eine treibende Kraft dahinter war offenkundig der frühere Sicherheitsminister Gilad Erdan, der dieses Amt von 2015 bis 2020 innehatte; inzwischen ist der Likud-Politiker UN-Botschafter in New York.
Im August 2019 befürwortete er – nicht zum ersten Mal – den Wandel: „Es gibt eine Ungerechtigkeit im Status quo, der seit 1967 in Kraft ist, und wir müssen dies ändern, so dass Juden in Zukunft auf dem Tempelberg beten können – der die heiligste Stätte des jüdischen Volkes ist und die drittheiligste des Islam.“ Hintergrund dieser Äußerung waren Unruhen zwischen Muslimen und Juden, als der jüdische Trauertag Tischa B’Av und das muslimische Opferfest auf einen Tag fielen. Erdan ergänzte noch, dass eine Änderung nicht einseitig, sondern mit diplomatischen Mitteln erfolgen müsse.
Unter seiner Ägide fing die Polizei jedoch schon an, weniger streng gegen betende Juden vorzugehen. Wenn das Gebet still und leise verläuft, scheint dies kein Problem mehr zu sein. Laut der Zeitung „Jerusalem Post“ hat Erdan zu diesem Zweck auch einige Posten bei der zuständigen Polizeibehörde neu besetzt. Dass sich die Haltung zum jüdischen Gebet änderte, wurde erstmals im Dezember 2019 in größerem Maße bekannt, als darüber berichtete: „Die Gebete wurden im Sichtfeld und in unmittelbarer Nähe der Polizeibeamten, die die Gruppe um den Tempelberg herum begleiteten, bis zu Ende gesprochen.“ Die Beter achteten ihrerseits auf Diskretion und verzichteten etwa auf Gebetsgesten.
Der damalige Polizeisprecher Mickey Rosenfeld erklärte allerdings, dass es bezüglich des Status quo keinerlei Änderungen gegeben hatte. Doch zumindest eine Änderung war nicht von der Hand zu weisen: Erdan hat dafür gesorgt, dass der Besuch von Juden auf dem Tempelberg für diese angenehmer wurde. Zuvor hatten oftmals bezahlte Aktivisten mit Geschrei und Pöbeleien für Unbehagen bei Juden gesorgt. Unter Erdan war deren Besucherzahl aber von 10.000 (2015) auf 29.000 (2019) pro Jahr gestiegen.
Mitte Juli 2021 tauchten dann weitere Berichte über jüdische Beter auf dem Tempelberg auf. Der Fernsehsender „Kanal 12“ zeigte israelische Polizisten, die nicht eingriffen, um die Beter des Platzes zu verweisen. Noch bis vor wenigen Jahren reichte es für ein Einschreiten schon, wenn ein Touristenführer die Bibel zitierte. Die jordanische Waqf-Behörde, zuständig für die Verwaltung des Areals, war sich dem Bericht zufolge über die Situation im Klaren, schritt aber ebenfalls nicht ein.
Für Verwirrung sorgte dann am Tag nach diesem Fernsehbericht Premierminister Naftali Bennett. Als Araber verhindern wollten, dass Juden am Trauertag Tischa B’Av das Areal betreten – damit aber keinen Erfolg hatten – dankte der Jamina-Politiker dem Sicherheitsminister und dem Polizeichef für ihr umsichtiges Handeln, „während sie Religionsfreiheit für Juden auf dem Tempelberg gewährleisten haben“. Viele deuteten diesen Satz als grundsätzliche Erlaubnis jüdischen Gebets. Das Regierungsamt sah sich daraufhin genötigt, die Dinge klarzustellen: Der Status quo bleibt bestehen.
Der Vorfall vom Oktober legt jedoch nahe, dass die Wirklichkeit vor Ort eine andere ist. Einer derjenigen, die regelmäßig auf dem Tempelberg beten, ist Rabbi Elijahu Weber. Für den Dekan der „Tempelberg-Bibelschule“ geht es bei dem Gebet auch um Symbolik – durch die Begehung des Areals will er zeigen, dass Juden einen Anspruch auf diesen Ort haben: „Wenn wir nicht kommen, scheint es so, als ob wir uns nicht für den Platz interessieren würden“, sagt er der „Jerusalem Post“. Weber macht auch keinen Hehl aus seinen Träumen: Eines Tages will er ohne Einschränkungen dort beten dürfen, also etwa mit Gebetsbuch und Gebetsschal. Und auch vom großen Ziel spricht er: Die Errichtung eines dritten Tempels und die Neuauflage des Opferdienstes.
Ein anderer Tempelberg-Beter ist Arnon Segal. Regelmäßig postet er auf Twitter Bilder von seinen Besuchen dort. Mitunter geht es dabei allerdings auch darum, dass er keinen Zutritt bekommt. Am Morgen des 28. November schilderte er, dass ein Polizist es ihm verbot, das Areal einmal zu umrunden, „weil dort schon zwölf religiöse Juden sind und das ist zu viel“. Da am Abend dieses Tages das Chanukka-Fest begann, nahm er darauf Bezug: „Am Vorabend von Chanukka im (jüdischen Jahr) 5782 ist ein weiterer Sieg der Makkabäer nötig.“
Die Entwicklung hin zum jüdischen Gebet auf dem Tempelberg ist nicht nur wegen des Widerspruchs zum Status quo erstaunlich. Über Jahrhunderte galt unter jüdischen Gelehrten mehrheitlich die Auffassung, dass Juden das Areal überhaupt nicht betreten dürfen – um sicher zu gehen, nicht in die Bereiche zu gelangen, die laut der biblischen Überlieferung nur für den Hohenpriester zugänglich waren.
Dabei war das in früheren Zeiten offenbar kein Problem gewesen. Historiker sind sich einig, dass in den ersten hundert Jahren nach der muslimischen Eroberung Jerusalems (638) eine Synagoge auf dem Tempelberg in Betrieb war. Mutmaßlich hatten die Juden von damals noch genauere Kenntnis vom Ort des Tempels als heute.
Nachdem aus unbekannten Gründen der Synagogenbetrieb untersagt wurde, gingen Juden dazu über, an den Mauertoren zu beten. Bis zur Zeit der Abujiden (12. Jahrhundert) geschah dies wohl vor allem am Goldenen Tor an der Ostseite. Erst als um das Tor herum ein muslimischer Friedhof entstand, verlagerte sich das Gebet an die Westmauer. Im 16. Jahrhundert bewilligte der türkische Sultan Suleiman I. mit einem Dekret, dass Juden dort beten dürfen – diese Anordnung hatte knapp vier Jahrhunderte lang Bestand.
Nach dem Sechs-Tage-Krieg gab es immer wieder Versuche, jüdisches Gebet auf dem Tempelberg zu etablieren. Im Jahr 1976 schlug die Magistratsrichterin Ruth Orr vor, feste Gebetszeiten für Juden einzurichten. Das war aber weder mit der Regierung noch mit dem Oberrabbinat aus bekannten Gründen der Heiligkeit zu machen. Doch Verfechter des jüdischen Gebets auf dem Tempelberg sind der Auffassung, dass Teile des Tempelbergs durchaus betreten werden können – in Bereichen, wo der Tempel mit dem Allerheiligsten ganz sicher nicht stand. Mit der Zunahme an archäologischer Kenntnis lassen sich die Bereiche deutlicher eingrenzen. Zudem ist bekannt, dass der heutige Tempelberg im Verlauf der Jahrhunderte erheblich erweitert wurde, was ein gewisses Maß an Bewegungsfreiheit zulässt. Besonders der Nord- und Südbereich eignet sich demnach für die Begehung.
Der Richterspruch vom Oktober ist in dieser Thematik eine interessante Wegmarke. Für manchen Aktivisten sorgte er aber für zu viel Aufmerksamkeit, die die Sache nicht unbedingt fördert. Männer wie Dekan Elijahu Weber sind sich bewusst, dass es bis zum Ziel ihrer Träume noch ein weiter Weg ist und nur kleine Schritte möglich sind. Abgesehen davon haben jüdische Gelehrte die Hürden für einen Tempelbau recht hoch gelegt: Nicht zuletzt sei die Angelegenheit ohnehin Sache des Messias. Erst müsse ein umfassender Weltfrieden bestehen, zudem brauche das jüdische Volk spirituelle Vorbereitung.
Immerhin: Unterstützung bekommen die Tempelberg-Beter inzwischen auch von säkularen Juden wie Tom Nisani, der für die volle jüdische Souveränität und Religionsfreiheit eintritt, besonders auf dem Tempelberg. In seinen Augen gilt: „Der Tempelberg ist der heiligste Ort für Juden, und Juden aus allen Strömungen sollten sich hier zuhause fühlen, denn es ist ihr Zuhause.“