Die Frage nach dem Kern des Christentums ist so alt wie das Christentum selbst. Im Laufe der Geschichte haben Denker unterschiedliche Antworten darauf gefunden. Allzu oft spielten biblische Aussagen dabei eine nachrangige Rolle. Mitunter wurden Übersetzungen soweit gedehnt, bis sie zu den jeweils eigenen Denkvorstellungen passten. Für Abweichler standen auch schon Kerker und Scheiterhaufen zur Verfügung – oder man erklärte einfach, ihnen sei eben keine Offenbarung zuteilgeworden.
Des letzteren Mittels bediente sich der evangelikale Theologe Thomas Schirrmacher in einem Interview mit dem „Christlichen Medienmagazin pro“ im Juni 2020. Dort kam er mehrmals auf die „DNA“ beziehungsweise „zentrale Wahrheiten“ des Christentums zu sprechen. Gegen Ende des Gespräches mahnte er, dieser Kern sei bedroht, weil die Bibelkenntnis abnehme – und dass zu diesem Kern insbesondere die Trinitätslehre zähle: „Wenn den Christen zum Beispiel inhaltlich nicht mehr bewusst ist, dass die Dreieinigkeit aus der Offenbarung kommt, dann ist Tor und Tür dafür geöffnet, dass jeder aus dem Christentum das macht, was ihm selber gerade passt. Das kann man keinem verbieten, wir haben Religionsfreiheit. Aber das ist dann nicht mehr Christentum.“
Leider endet das Interview hier, aber eigentlich hätte es an dieser Stelle erst richtig losgehen können. Zum Einen, weil gerade der Zusammenhang von Bibelkenntnis und Trinitätslehre hochinteressant ist. Was, wenn dem Bibelkundigen auffällt, dass in der Lutherübersetzung von 2017 in Römer 9,5, anders als noch in der von 1984, Jesus nicht mehr als „Gott“ bezeichnet wird? Steht die neue Übersetzung damit außerhalb der Offenbarung? An der Textstelle ist vermerkt, dass Luther hier der Vulgata gefolgt war, also einer Bibelübersetzung, die nach den Trinitätsentscheidungen des 4. Jahrhunderts entstanden ist. Die Übersetzer der neuen Luther-Ausgabe mögen angesichts der Zweideutigkeit des griechischen Textes auch mitbedacht haben, dass Paulus sonst an keiner Stelle von Jesus als Gott spricht.
Auch an anderen Bibelstellen lassen sich Spannungen zwischen griechischem Text und Übersetzungen feststellen: Der sogenannte Christushymnus in Philipper 2,6-11 gilt als ein zentraler Beleg für die Trinitätslehre. Allerdings machen neun von zwölf gängigen deutschen Übersetzungen aus dem Verb „etwas für etwas halten“ in Vers 6 ein „an etwas festhalten“. In so einer Lesart wird Jesus ein „Gott-gleich-sein“ oder gar ein „Gott-sein“ angedichtet – weil er an ebendiesem nicht mehr „festhält“. Wenn das nun aber nicht im Text steht, liegt dann nicht das Urteil nahe, dass es diese Übersetzer sind, die „aus dem Christentum das machen, was ihnen selber gerade passt“?
Allein schon wegen derartiger sprachlicher Probleme – die Liste lässt sich fortführen – ist genug Anlass geboten, beim Thema Trinitätslehre Vorsicht walten zu lassen. Das gilt auch aufgrund eines zweiten interessanten Aspekts, der eigentlich zu Rückfragen einlädt: Denn anders als Schirrmacher es nahelegt, war es gerade die Trinitätslehre, die Tor und Tür öffnete für Umformungen des Christentums. Man denke nur an Philosophen wie Marius Victorinus im 4. Jahrhundert oder Hegel im 19. Jahrhundert. Beide sahen in der Trinitätslehre einen Anknüpfungspunkt für eine neuplatonische Deutung des Christentums und wirkten damit ihrerseits wieder auf Theologen. Ein Ergebnis ist dann die Vergeistigung des Christentums, wie etwa bei Paul Tillich, der das ewige Leben als bloße Erinnerung der positiven Aspekte des „zeitlichen“ Daseins beschreibt.
Angesichts dieser geistesgeschichtlichen Episoden scheint die Trinitätslehre als Kern des Christentums denkbar untauglich. Mit etwas Bibelkenntnis tut sich aber eine Alternative als Möglichkeit auf: Für Paulus ist etwa der Glaube an Jesus als Gottes Sohn (nicht „Gott-Sohn“) und an die leibhaftige Auferstehung der Toten der entscheidende Aspekt des christlichen Glaubens – ohne diesen Glaubensinhalt fällt alles andere, betont er in 1. Korinther 15.
Dem Interview zufolge sind selbst Menschen, die sich diese Glaubensinhalte zueigen machen, für die Evangelikalen – Schirrmacher ist seit März 2021 Generalsekretär der Weltweiten Evangelischen Allianz – keine Christen, wenn sie aufgrund offener Fragen die Trinitätslehre ablehnen. Mit dem Verweis auf die „Offenbarung“ ist zudem ausgeschlossen, dass Rückfragen bezüglich dieses Dogmas aus einem schlichten Ringen um Bibelkenntnis, um ein bibeltreues Verständnis stammen könnten. Bibeltreu auch in dem Sinne, die Texte konsequent vor dem Hintergrund des jüdischen Ein-Gott-Glaubens (Mk 12,28 ff.) zu lesen und erst nachrangig mit der Brille späterer Dogmenbildung. Wenn Schirrmacher aber deutlich machen wollte, dass für Evangelikale bei dieser Thematik alle Fragen geklärt sind, muss man von einem gelungenen Interview sprechen.