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Nationalstaatsgesetz

Die jüdische Dimension

Das israelische Nationalstaatsgesetz hat nicht nur in Israel für Empörung gesorgt. Zum Teil sind die Reaktionen hausgemacht. Im Kern ist das Gesetz aber der Versuch, eine Unwucht zu beseitigen.
Analyse | 31.10.2018

Wie man es auch dreht und wendet, am 19. Juli hat die Knesset Historisches vollbracht. Anders jedenfalls lassen sich die Reaktionen auf das Nationalstaatsgesetz, das die Abgeordneten nach langer Debatte in jener Sommernacht verabschiedeten, nicht deuten. Mit einer knappen Mehrheit von 62 von 120 Stimmen legten sie gesetzlich fest, dass Israel der Nationalstaat des jüdischen Volkes ist. Während Befürworter wie Regierungschef Benjamin Netanjahu frohlockend von einem „Schlüsselmoment in der Geschichte des Zionismus“ sprachen, konnten Gegner wie der arabische Abgeordnete Ahmad Tibi nur noch den „Tod der Demokratie“ feststellen.

Nicht minder heftig fielen die Reaktionen andernorts aus. „Mein Israel ist tot!“, lamentierte etwa Vivien Duffield. Die 72-jährige Britin zählt zu den größten wohltätigen Geldgebern in Israel. Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan sieht den „Faschismus“ in Israel aufblühen. Die Europäische Union äußerte sich zumindest „besorgt“. Und in Tel Aviv gingen an zwei Samstagen im August Zehntausende auf die Straße, um gegen das Gesetz zu protestieren. Minderheiten wie die Drusen betonten dabei, sie fühlten sich nunmehr als „Bürger zweiter Klasse“.

Gefühlte Benachteiligung

Besonders letzte Äußerung ist bemerkenswert, hatte die Knesset doch erst Ende Mai einen Gedenktag für die Beiträge und Errungenschaften der Drusen festgelegt. Als Gruppe dürften sich die Drusen also wertgeschätzt fühlen. Aber ein Punkt lässt sich nicht abstreiten: Das Nationalstaatsgesetz macht keinen Hehl daraus, dass Israel vorrangig für Juden da sein soll. Es legt etwa fest, dass die Förderung jüdischer Einwanderung, jüdischer Ortschaften und der Beziehungen zum Diaspora-Judentum ein zentraler Wert des Staates ist. Und es sagt explizit, dass in Israel allein Juden Nationalrechte haben: „Die Ausübung des Rechts auf nationale Selbstbestimmung im Staat Israel kommt in einzigartiger Weise dem jüdischen Volk zu“, heißt es in Abschnitt 1c.

„Gefühlsmäßig“ mag man daraus den Vorwurf ableiten, Minderheiten in Israel seien „Bürger zweiter Klasse“. Der Sache nach sind die Bürgerrechte vom Nationalstaatsgesetz gerade nicht berührt. Im Gegenteil: Diese sind in einem anderen, bereits 1992 verabschiedeten Grundgesetz festgehalten, und gelten für alle Israelis, gleich welcher Herkunft. Dass dieses Gesetz noch nicht fertig ausformuliert ist – laut Außenministerium handelt es sich nur um einen „Anfang eines Gesetzes der Rechte“ – ist eine andere Geschichte.

Und dennoch lässt sich der Protest der Drusen und anderer Minderheiten nicht einfach so abtun. Er legt eher den Gedanken nahe, dass ein ausdrücklicher Hinweis auf Minderheitenrechte angebracht gewesen wäre. So gesehen erreicht das Nationalstaatsgesetz nicht die Höhe der Aussagen, wie sie etwa in der Unabhängigkeitserklärung zu finden sind. Denn diese betont Israel als jüdischen Staat, zugleich aber auch die Rechte nicht-jüdischer Gemeinschaften.

Immerhin sehen auch einige Befürworter des Gesetzes diese Auslassung als Mangel. Benny Begin von der Regierungspartei Likud beklagt etwa, nun könnte man zur Auffassung kommen, dass sich nationale Identität und Bürgerrechte widersprechen. „Wir haben gelernt, dass wir zwischen den beiden Konzepten nicht unterscheiden dürfen, im Gegenteil, sie verschmelzen miteinander, und beide müssen zum Ausdruck gebracht werden.“ Er selbst hatte einen entsprechenden Entwurf eingebracht.

Urteil mit Nachwirkung

Die Entstehungsgeschichte des Nationalstaatsgesetzes gibt allerdings einen Hinweis darauf, warum das Gesetz so formuliert wurde, wie es heute vorliegt. Am Anfang stand eine wahrgenommene Überbetonung der Bürgerrechte. Eine Wegmarke ist dabei ein Urteil des Obersten Gerichts aus dem Jahr 2000: Mit dem Verweis auf die Gleichberechtigung aller Bürger gestatteten die Richter der arabischen Familie Qa‘adan, Land in der jüdisch-israelischen Ortschaft Katzir zu erwerben.

Die Richter unter Leitung von Gerichtspräsident Aharon Barak waren sich der Tragweite ihrer Entscheidung bewusst. Immerhin hatten die Anwälte der Familie damit argumentiert, dass die „Siedlungsphase“ des Zionismus vorbei sei. Der Fokus auf die individuellen Bürgerrechte, im Gegensatz zu den Kollektivrechten des jüdischen Volkes, weise hingegen in die Zukunft. Die Tageszeitung „Ma’ariv“ kommentierte damals, das Urteil sei der „letzte Sargnagel“ für den Zionismus. In der „Ha’aretz“ war es mit weniger drastischen Worten, dem Sinn nach aber ähnlich zu lesen: Das Urteil unterwandere einen zentralen Wert des Zionismus, nämlich die Förderung jüdischer Ortschaften.

Kritiker des Urteils betonten außerdem, die Richter hätten in der Mehrheitsmeinung die konkreten Umstände des Falles nicht berücksichtigt: Dass in der Region, am nordwestlichen Übergang zum Westjordanland, weitaus mehr Araber leben als Juden (damals 100.000 zu 5.000); dass umliegende arabische Städte wie Ar’ara oder Umm el-Fahm Juden grundsätzlich ausschließen; dass Araber mit dem Landverkauf an Juden ihr Leben gefährden, somit kein freier Wohnungsmarkt vorhanden sei.

Schwerer wog jedoch der Umstand, dass es der Gegenseite, darunter auch dem Wohnungsbauministerium, vor Gericht unmöglich schien, im Sinne des Zionismus zu argumentieren. „Die offenkundige Unfähigkeit des Staates, traditionelle zionistische Interessen zu verteidigen, war ein zentraler Grund der Besorgnis“, schreibt der Politologe Gerald M. Steinberg rückblickend. „Die politische Antwort ist in der aktuellen ‚Jüdischer Staat‘-Gesetzgebung zum Ausdruck gebracht.“

Rechtliche Verankerung

Mit anderen Worten: Das Nationalstaatsgesetz soll dort für Rechtssicherheit sorgen, wo der Zionismus infrage steht. Dabei wiederholt es größtenteils Punkte, die in einschlägigen Dokumenten bereits formuliert wurden: Wie die Unabhängigkeitserklärung von 1948 beschreibt es die Verbundenheit der Juden mit dem Land Israel; wie der UN-Teilungsplan von 1947 spricht es von einem „jüdischen“ Staat; wie das Palästinamandat von 1920/22 und die Balfour-Erklärung von 1917 gesteht es allein Juden das Recht auf nationale Selbstbestimmung in dem jeweils beschriebenen Gebiet zu.

Und auch sonst wirkt das Gesetz wie eine Auflistung von Dingen, die bereits gelebte Wirklichkeit sind: Fahne und Wappen des Staates Israel, dessen Hauptstadt Jerusalem („als Ganzes und vereint“), Hymne und Feiertag, sogar dessen Namen. Auch den Gebrauch zweier Kalender zugleich, des jüdischen und des gregorianischen, beschreibt der Gesetzestext.

Die Pointe dabei ist, dass es sich hierbei um Symbole mit jüdischem Bezug handelt, die dann doch regelmäßig bestritten, wenn nicht gar boykottiert werden – nämlich von denen, die einen jüdischen Staat nicht haben wollen. So haben die Palästinenser zwar Israel als Staat, aber nicht als jüdischen Staat anerkannt. Und arabische Knessetabgeordnete verlassen gerne mal den Saal, wenn die Hatikva erklingt. Das Nationalstaatsgesetz ist auch eine Antwort auf derartige Realitäten.

Sprache als Politikum

Einer der umstrittensten Punkte ist die Sprachregelung: Das Hebräische gilt als einzige Amtssprache, während dem Arabischen ein „Sonderstatus“ zukommt. Im Grunde folgt das Gesetz hier aber seiner inneren Logik: Denn es legt ja gerade keinen binationalen Staat fest, der dann mehrere Amtssprachen hätte, sondern einen jüdischen, der dann eben auch nur eine Amtssprache hat.

Der Begriff „Sonderstatus“ für das Arabische bedeutet damit einerseits eine Abwertung – es verliert den Charakter der Amtssprache – zugleich aber auch eine Wertschätzung: Es spielt eine herausragende Rolle in Israel. Bei 20 Prozent Arabern in der Bevölkerung lässt sich das auch kaum anders sagen. Darüber hinaus hat das Arabische die Tradition orientalischer Juden bestimmt.

Wohl auch um diese Wertschätzung noch einmal zu unterstreichen, ist das Gesetz hier um besondere Klarheit bemüht: Es betont, dass sich nichts an dem Status ändert, den das Arabische zuvor hatte. Das heißt etwa, dass in arabischen Schulen weiterhin auf Arabisch unterrichtet werden kann, oder etwa auf Schildern die Ortsnamen auch auf Arabisch zu lesen sind, und auf Ämtern die Formulare auf Hebräisch, Arabisch und meist auch auf Englisch vorhanden sind.

Erfüllte Sehnsucht

Das letzte Wort zum Nationalstaatsgesetz ist sicherlich noch nicht gesprochen. Erst Mitte Oktober, zu Beginn der Winterperiode der Knesset, haben vier arabische Abgeordnete angekündigt, aus Protest einen Monat lang sämtlichen Knessetsitzungen fernzubleiben. Und auch das Oberste Gericht muss zum Gesetz noch Stellung nehmen, denn es liegen bereits einige Petitionen vor.

In seinen wesentlichen Bestimmungen wird sich am Gesetz aber nichts ändern. Dessen Bedeutung lässt sich an den Worten erkennen, die Amir Ohana wählte. Aus Sicht des Likud-Politikers ist das zionistische Projekt, das jüdische Streben nach einer Heimat, erst am 19. Juli 2018 zu einem wirklichen Ergebnis gekommen. „Dieser Moment wird in der Geschichte der jüdischen Nation in Erinnerung bleiben“, sagte Ohana. „Wir legen einen der Grundsteine unserer Existenz. Nach 2.000 Jahren des Exils haben wir ein Zuhause.“