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Vor den EU-Wahlen

Die Nation, ein Teufelszeug!

Wer heute den Nationalstaat schätzt, gilt schnell als Nationalist. Dabei bürgt ein politisches Gebilde wie Deutschland für Recht und Freiheit – und für politische Demut.
Kommentar | 22.05.2014

Die Nationen haben es schwer dieser Tage. Sofern sie das Pech haben, auf einem Flecken Europas zu liegen, werden sie mit Füßen getreten. Hohn und Argwohn preschen auf sie ein. Manche halten sie für zu schwach, um sich künftigem Unbill zur Wehr zu setzen. Wieder andere sehen in ihnen Gebilde, in denen alle menschlichen Egoismen zu einem unsäglichen Machterguss zusammenfinden und die daher geschwächt, wenn nicht aufgelöst werden sollten.

„Europäische Einigung“ lautet meist die Antwort auf beide Befürchtungen. „Europäische Union“ ist das Gebälk, um den sich der Prozess ranken soll. Auch wenn architektonisch daran noch gefeilt werden muss, das Ziel steht fest vor Augen. Der Philosoph und SPD-Berater Jürgen Habermas, der sich als Vordenker dieses Prozesses hervorgetan hat, formulierte es im Jahr 2007 so: Angesichts der „starken nationalen Kulturen“ müssen ebendiese „nach innen und nach außen poröser“ werden. Die EU soll so den Europäern dabei helfen, sich füreinander zu öffnen, „sich in die fremde Welt des Weinbauern aus Portugal oder des Klempners aus Polen einzufühlen“.

Der ausgerufenen Empfindlichkeit gemäß reagieren leitende Medien und Politiker in Deutschland pikiert, wenn jemand nicht einschert. Als die Schweizer, die gar nicht zur EU gehören, ihre nationalen Grenzen weniger porös halten wollten und für kontrollierte Einwanderung stimmten, legte die Nachrichtenseite „Zeit Online“ ihnen die Worte „Fuck you, Deutschland“ in den Mund. SPD-Vize Ralf Stegner wetterte gegen die „nationalistischen“ und „isolationistischen“ Eidgenossen, die ja im Übrigen „spinnen“. Die Frage der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, „Was kann Europa gegen die Schweizer Abstimmung tun?“, mutet zwar antidemokratisch an, lässt dafür aber keine Zweifel daran aufkommen, dass sich hier „echte Europäer“ Sorgen machen.

Keine Differenzierung

Der Ironie ernster Kern liegt in der unbekümmerten Wahl der Worte, wenn es um „Europa“ geht. Es mangelt an analytischer Nüchternheit, wenn aus EU-Skeptikern umgehend „Europa-Skeptiker“, „Europa-Hasser“ oder „Europa-Feinde“ werden. Und wenn die Bundeszentrale für politische Bildung die Empfänger ihres Newsletters mit der Nachricht versorgt, dass bald in „ganz Europa“ Wahlen sind, muss man sich fragen, welche Karten dort eigentlich an den Wänden hängen. Der erste Schritt zu einer niveauvollen Auseinandersetzung, sprich einer offenen Debatte über Europa ist die Unterscheidung zwischen EU und Europa.

Alles Haarspalterei? Keineswegs, denn eine Sprache, die EU und Europa gleichsetzt, untergräbt andere Perspektiven auf den Kontinent. Wäre nicht auch denkbar, dass „starke nationale Kulturen“ erst der Antrieb sind für das wechselseitige Interesse in Europa? Ist ein solches Interesse nicht wertvoller, wenn es spontan geschieht, anstatt politisch verordnet zu sein? Ist nicht für bessere Verständigung gesorgt, wenn Menschen aus Begeisterung für andere starke europäische Kulturen heraus deren Sprachen lernen? Können nicht auch „starke nationale Kulturen“ politisch zusammenarbeiten, um gemeinsam stark zu sein?

Nation mit Sinn

Eine Möglichkeit, „das Nationale“ gelassener zu sehen, findet sich in einem Gedanken, den Habermas 2011 niedergeschrieben hat. Er hielt fest, dass nationale Kulturen auch einen politischen Mehrwert haben: „Die Nationalstaaten sind mehr als nur die Verkörperung bewahrenswerter nationaler Kulturen; sie bürgen für ein Niveau an Gerechtigkeit und Freiheit, das die Bürger zu Recht erhalten sehen wollen.“

Ein nationales Gebilde wie Deutschland ist auch deshalb zu schätzen, weil es sich zu nationaler und politischer Demut verpflichtet hat. In der Präambel des Grundgesetzes verfasst sich das deutsche Volk „im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen“. Das ist ein Satz gegen jedwede Selbstüberhöhung, der Deutschland „über alles“ geht und die im vergangenen Jahrhundert unfassbaren Schaden angerichtet hat. Und wenn nicht eben mal schnell ein Hilfspaket für andere Staaten beschlossen wurde, war ein Parlament wie der Bundestag auch immer der Ort der politischen Verantwortung.

Die EU ist in den vergangenen Jahren weder durch ein verantwortliches politisches Miteinander noch durch Demut aufgefallen. Folgt man Habermas, wird sie letzteres auch in Zukunft nicht tun. Trotz seines Plädoyers für den Erhalt der Nationen schwärmt er von einer „transnationalen“, „politisch verfassten Weltgesellschaft“ mit einem „Weltparlament“. Die EU soll nichts weniger als der „entscheidende Schritt“ auf dem Weg dorthin sein. Am europäischen Wesen soll die Welt genesen! Wollen wir Europäer diesen Übermut?

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