Vor vier Jahren vermisste Frank Schirrmacher ein Buch. Zwar vermerkte der Feuilletonist zu Beginn der Frankfurter Buchmesse 2007 ein blühendes Angebot insbesondere an religiöser Literatur. Das entscheidende Buch aber würde fehlen, beklagte er in seinem Kommentar für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“. Gemeint war eine historisch-kritische Ausgabe des Korans. Denn, so Schirrmacher, noch immer seien es Bücher, die Revolutionen und Reformationen auslösten, und eine textkritische Edition des Korans berge das Potenzial in sich, solches zu tun.
Im Jahr 2011 könnte man angesichts des „Arabischen Frühlings“ anmerken, dass es inzwischen „soziale Netzwerke“ wie Facebook sind, die die großen Umwälzungen herbeiführen. Doch wird sich erst zeigen müssen, wohin die begonnene Revolte führen wird. Letztlich werden es auch hier Bücher sein, die diesen Bewegungen Nachhaltigkeit verleihen, oder, folgt man dem Gedanken Schirrmachers, eben ein bestimmtes Werk: „Das Buch, das imstande sein wird, Herrscher zu stürzen und Reiche zu wenden, ist die historisch-kritische Ausgabe des Korans…“, orakelte Schirrmacher.
Noch aber ist es nicht soweit. Ein kritischer Kommentar zum Koran entsteht mit dem „Corpus Coranicum“ zwar gerade in Berlin. Bis zur Fertigstellung werden aber noch Jahre vergehen. Auch auf eine textkritische Edition des Korans selbst wird noch lange zu warten sein. Doch machen diese Arbeiten eines deutlich: Eine Akademisierung des Islam, ein kritischer Umgang mit seinem Grundtext ist in Deutschland unaufhaltsam im Kommen.
Während die Bücher noch auf sich warten lassen, vollzieht sich schon jetzt ein anderer bedeutender Schritt in diese Richtung: Zu Beginn dieses Semesters hat an der Universität Tübingen das „Zentrum für Islamische Theologie“ seine Arbeit aufgenommen. In den nächsten Semestern kann man an drei weiteren Zentren islamische Theologie studieren: an den Doppelstandorten Nürnberg-Erlangen, Frankfurt/Gießen und Münster/Osnabrück.
Das Ziel dieser Bildungsoffensive ist es, analog zu den evangelischen und katholischen Fakultäten auch bekenntnisorientierte islamische Fakultäten an den Universitäten einzurichten. Bislang wurde der Islam nur „von außen“ bei den Religionswissenschaften oder der Orientkunde behandelt. Nun aber sollen auch gläubige Muslime eine hochwertige Ausbildung erhalten, um als Sozialarbeiter oder als Religionsgelehrte in Schulen, Moscheen oder an Universitäten zu arbeiten. Und natürlich wird es auch darum gehen, am Islam und den dazugehörigen Quellen zu forschen.
Die Initiative für dieses Vorhaben ging vom Wissenschaftsrat der Bundesregierung aus. Im Januar 2010 empfahl er Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU) die Einrichtung Islamischer Studien an staatlichen Universitäten. Der Bund investiert dafür in den nächsten fünf Jahren etwa 18 Millionen Euro. Nach Ablauf dieses Zeitraums sind die Universitäten dazu angehalten, die Kosten selbständig zu tragen.
Diese Neuentwicklung in der akademischen Landschaft Deutschlands trägt vor allem der Tatsache Rechnung, dass in Deutschland etwa vier Millionen Muslime leben, über die Hälfte davon sind türkischstämmig. Muslime bilden nach den beiden Konfessionen des Christentums die – mit großem Abstand – drittgrößte Religionsgemeinschaft in Deutschland. Daher, so verlautete es aus dem Bundesbildungsministerium, hätten sie im Sinne einer „zeitgemäßen Integrationspolitik“ Anspruch auf religiöse Bildung für ihre Kinder, so wie es den schulischen Religionsunterricht für Christen gibt.
Hinter dieser Absicht steht ein sinnvoller Gedanke. Zurzeit erhalten junge Muslime ihre religiöse Bildung und Einstellung vor allem von den Imamen in der Moschee. Dies ist nicht unproblematisch: Schätzungen zufolge kommen 90 Prozent der Imame aus dem Ausland, die überwiegende Mehrheit davon aus der Türkei. Die hiesige Gesellschaft ist ihnen fremd, sie selbst kennen die deutsche Sprache kaum und müssen sich, wenn sie nach Deutschland kommen, selbst erst an die neuen Lebenswelten gewöhnen. Es bestehen also Zweifel, ob ein ausländischer Imam in Deutschland integrationsfördernd arbeiten kann. Mit einer Ausbildung von Imamen und Religionslehrern in Deutschland, so die Hoffnung der Bildungsverantwortlichen, würden diese Probleme gemindert. Das dazu benötigte Personal soll an deutschen Universitäten eine qualitativ gute Ausbildung erhalten und in dieser Gesellschaft sozialisiert sein.
Neben diesen praktisch-pädagogischen Aspekten darf aber nicht die eigentlich Pointe der Bildungsoffensive untergehen: Wird der Islam wie das Christentum an deutschen Universitäten gelehrt, untersteht er ebenfalls den Kriterien der Wissenschaft. Freiheit der Forschung und historisch-kritische Exegese des Korans müssen die Signaturen eines akademischen Islams in Deutschland sein.
Um nun auf den Kommentar von Frank Schirrmacher zurückzukommen: Als er seine Zeilen verfasste, war ihm die Reaktion der Muslime auf die „Regensburger Rede“ von Papst Benedikt im Jahr 2006 in frischer Erinnerung. Dort hatte sich der Papst im doppelten Sinne kritisch zum Islam geäußert. Zum einen monierte er dessen Gewaltbereitschaft. Zum anderen argumentierte er in dieser Rede in bester historisch-kritischer Manier: In den frühen Texten des Korans habe Mohammed noch eine durchaus tolerante Haltung gepflegt, da er sich selbst in der Defensive sah. Erst mit späterem Machtzuwachs habe er den „Heiligen Krieg“, den „Dschihad“, gelehrt, und dies begegne einem in den Korantexten aus späterer Zeit.
Dies ist eine einfache Feststellung auf dem Boden historisch-kritischer Forschung. Die Reaktionen in muslimischen Ländern – besonders in der Türkei – waren unwirsch. In dem Land, das auf einen EU-Beitritt drängt, kam es nach der Papstrede zu Straßenkämpfen und Anschlägen auf christliche Einrichtungen. Federführende Politiker hatten den Papst mit Mussolini und Hitler verglichen.
Befassen sich nun gläubige Muslime an deutschen Universitäten mit dem Islam, werden sie nicht umhin kommen, den gleichen kritischen Umgang mit ihrem Glauben zu lernen, wie es Christen bereits getan und auch ausgehalten haben. Einem selbstbewussten Glauben kann dies nichts anhaben. Bislang jedoch müssen auch in Deutschland Gelehrte, die Kritisches zum Islam und zum Koran schreiben, um ihr Leben fürchten. Koranforscher wie Christoph Luxenberg veröffentlichen daher nur unter Pseudonym. Doch muss heute für Gelehrte in Deutschland ein Anspruch gelten, wie ihn Schirrmacher bereits vor vier Jahren formuliert hat: „Es kann nicht verboten sein, als Bürger des 21. Jahrhunderts Textkritik zu betreiben, Vergleiche anzustellen und Übereinstimmungen festzustellen.“
In dieser Forderung liegt letztlich eine Chance für den Islam selbst. Die ernsthafte Behandlung an deutschen Universitäten stellt ihn frei von politischer Vereinnahmung der Religion, wie es in vielen muslimischen Ländern der Fall ist. Texte, die sich mit den bekenntnisorientierten Islamstudien befassen, umschreiben diese Möglichkeit mit „Islamische Theologie im europäischen Kontext“, „Neu-Interpretation Islamischer Quellen“ und „zeitgemäße Deutung des Islams“.
Ob es dazu kommen wird, ist allerdings offen. Denn den Muslimen ist es vorbehalten, durch „Beiräte“ Einfluss auf die Besetzung der Lehrstühle zu nehmen. Damit soll gewährleistet werden, dass die universitäre Islamlehre den Vorstellungen der muslimischen Gemeinschaft entspricht. Da die „Beiräte“ jedoch meist von konservativen Verbänden kommen, wird die Befürchtung laut, dies schränke die akademische Freiheit ein. Bedenkenswert ist außerdem der Umstand, dass der Verband „Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion“, der etwa in Tübingen das größte Mitspracherecht besitzt, unter der direkten Kontrolle des türkischen Staates steht.
Wissenschaftliche Freiheit bedeutet ergebnisoffene, unvoreingenommene Forschung. Dazu gehört die Bereitschaft, auf Basis wissenschaftlicher Arbeit auch neue inhaltliche Deutungen zuzulassen. Ob dieser Anspruch in den neuen Islamstudiengängen in Deutschland und für den Islam erreicht wird, ist alles andere als ausgemacht. Aber gerade darin trägt der Vorstoß bereits den Charakter bester wissenschaftlicher Forschung: Es handelt sich um ein ergebnisoffenes Experiment.
Dieser Artikel ist zuerst bei Christliches Medienmagazin pro erschienen.